Pflege und Gesundheit Piratenpartei Politik und Gesellschaft

Von Leverkusen ins Wahlprogramm oder: Verzicht auf freiheitsentziehende Maßnahmen durch körpernahe mechanische Fixierungen in der Pflege

Piraten nehmen Fixierungsverzicht in Wahlprogramm auf

Geöffnete Handschellen

Am letzten Wochenende fand der Landesparteitag der Piratenpartei NRW statt. Dort wurden zahlreiche Anträge zum Wahlprogramm für die Landtagswahl 2017 abgestimmt. Darunter war ein besonderer: Erstmals wurde ein Antrag eines Leverkusener Piraten bei einem Landesparteitag der Piraten angenommen. Es handelt sich um den Antrag WP021.1, der von mir eingebracht und mit nur 3 Gegenstimmen bei überwältigender Mehrheit angenommen wurde:

Pflege ohne freiheitsentziehende Maßnahmen

  • Einrichtungen der Alten- und Dauerpflege sollen fixierungsfreie Einrichtungen werden.
  • Statt gegen den Willen der Betroffenen eingesetzten körpernahen mechanischen Fixierungen wie Bettgittern und Gurtsystemen sollen Hilfsmittel eingesetzt werden, die die Bewegungsfreiheit erhalten.

Zum gleichen Thema wurde kürzlich eine Anfrage der Piratenpartei Leverkusen in den Nachrichten z.d.A. Rat beantwortet[3]. Auch in Leverkusener Pflegeheimen wird immer noch deutlich zu oft fixiert. Die Piraten NRW sind die erste Partei, die politischen Druck aufbaut, um diese überholte Pflegepraxis aus den Pflegeheimen zu verbannen.

Der Antrag WP021.1 fordert die Reduzierung freiheitsentziehender Maßnahmen in der Pflege. Die Begründung des Antrags, die auf dem Parteitag netterweise von Sandra Leurs verlesen wurde, dokumentiere ich gerne:

„Dieser Antrag richtet sich gegen unnötige freiheitsentziehende Maßnahmen in der Pflege. Warum? Es gibt doch Personen, die in eigener Erfahrung erlebt haben, dass Bettgitter oder andere Formen der körpernahen Fixierung hilfreich gewesen seien. Auch Pflegekräfte greifen aus Angst vor Regressforderungen von Angehörigen und Versicherungen immer wieder zu Bettgittern und Gurtsystemen, wenn sie die Alternativen nicht kennen. Was passiert dann bei gangunsicheren, häufig auch dementen Menschen durch ein Bettgitter? Sie werden am Aufstehen gehindert, was sie nicht verstehen. Dies führt aufgrund des Krankheitsbildes möglicherweise zu herausforderndem Verhalten wie Aggressionen gegenüber Dritten. Mit dem herausforderndem Verhalten wird dann die Notwendigkeit des Freiheitsentzugs begründet. Bevor sich die Katze in den Schwanz beißt, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Aggression durch den Entzug der Bewegungsfreiheit ausgelöst wurde.

Schlimmer noch, der aus solchen Fixierungen resultierende Schaden ist höher als der vermeintlich dadurch erreichte Nutzen: Durch dauerhafte Fixierungen geht die Mobilität v.a. durch Muskelabbau und Balanceverlust zurück, was das Sturzrisiko erhöht. Hochgestellte Bettgitter verhindern Stürze nicht effektiv, sondern erhöhen die Fallhöhe. Durch körpernahe mechanische Fixierungen kommen jedes Jahr Menschen zu Schaden oder gar ums Leben, indem sie sich strangulieren. Dies ist auch in der Pflege bekannt. Doch statt auf Bauchgurte zu verzichten, werden die Personen „diagonal fixiert“ oder „Vier-Punkt-fixiert“. Dies bedeutete, dass sie zusätzlich zu einem Gurt, der sich mit dem Becken an der Matratze hält, an einem Handgelenk und dem gegenüberliegendem Fußgelenk oder an allen Hand- und Fußgelenken angeschnallt werden. Stellt Euch bitte mal vor, wie sich das anfühlen muss. Und das oft nur, um zu verhindern, dass man sich beim Fallen verletzt.

Das Projekt Redufix kommentiert diese überholte Pflegepraxis aus dem vergangenen Jahrhundert mit einem passenden Slogan: „Eure Sorge fesselt mich.“ Jeder Mensch hat das Recht, sich frei zu bewegen, auch wenn er sich dabei verletzen könnte. Dies aus Angst vor Verletzungen gegen den Willen der Betroffenen zu unterbinden, ist nicht nur unverhältnismäßig, sondern auch ein Pflegefehler. Der pflegerische Expertenstandard Sturzprophylaxe zeigt deutlich, dass Fixierungen das Sturzrisiko erhöhen. Durch sie wird nämlich infolge der reduzierten Eigenbewegung Muskulatur abgebaut und so Kraft und Balance reduziert. Daher ist das Risiko zu stürzen in der Zeit, in der die Personen entfixiert werden oder nicht sicher fixiert sind, enorm erhöht. Stattdessen sollten Kraft und Balance gefördert werden und Folgen möglicher Stürze durch geeignete Hilfsmittel abgemildert werden. Es gibt nämlich bewegungsfördernde Alternativen: Durch Niedrigbetten, Aufstehsensoren, vor die Betten gelegte Matratzen, Hüftprotektoren oder Helme können bei erhaltener Bewegungsfreiheit Verletzungsgefahren deutlich reduziert werden. In der pflegerischen Praxis ist immer wieder zu beobachten, dass durch gewährte Bewegungsfreiheit und die erlebte Mobilität das Selbstwertgefühl der Betroffenen steigt. Zusätzlich steigert die Bewegung die Kraft und Balance, was wiederum das Sturzrisiko weiter senkt.

Die PIRATEN sind die Partei der Freiheit, und nichts greift mehr in die Freiheit ein als körpernahe Fixierungsmaßnahmen durch Fesseln, Gurte und Gitter. Aktuelle Anfragen, z.B. in der Stadt Leverkusen, zeigen, dass die bisherigen Bemühungen der Landesregierung NRW immer noch nicht zu einem deutlichen Rückgang freiheitsentziehender Maßnahmen in der Pflege führen. Das Festhalten an Bettgittern und Gurtsystemen und deren Einsatz gegen den Willen der Pflegebedürftigen widerspricht aktuellem pflegerischen Wissen. Im pflegerischen Alltag sind freiheitsentziehende Maßnahmen unnötig, fixierungsfreie Pflegeheime sind möglich.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert